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Beitrag vom 10.07.2012
Mein Sommer mit Mario - Ein Film von Julia Solomonoff
Dana Strohscheer
Jorgelina ist eifersüchtig auf ihre große Schwester. Früher haben sie jedes Geheimnis miteinander geteilt. Doch seit Luciana "die Sache" hat, will sie nicht mehr mit Jorgelina herumtoben, ...
... sondern schminkt sich lieber, tuschelt mit ihrer Freundin vor dem Spiegel und interessiert sich plötzlich für Jungs. Alles Dinge, die Jorgelina nicht verstehen kann und will.
So kommt es, dass die beiden Schwestern das erste Mal die Sommerferien getrennt verbringen. Während Luciana mit ihrer Mutter an den Strand fährt, verlebt Jorgelina mit ihrem Vater den Sommer auf einem Bauernhof in der Weite der argentinischen Pampa.
Hier beginnt die Regisseurin Julia Solomonoff die Geschichte einer Freundschaft jenseits gängiger Konventionen zu erzählen. Denn auf der Ranch lebt Mario, Sohn des Besitzers und ein wenig älter als Jorgelina. Er arbeitet so hart wie kaum ein anderer, obwohl er noch ein halbes Kind ist. Der ebenso drahtige wie schmächtige blonde Junge muss immer wieder beweisen, dass er genauso zum Mann taugt wie alle anderen im Dorf.
Nach anfänglicher Zurückweisung entwickelt sich zwischen der neugierigen, willensstarken Jorgelina und dem scheuen Mario eine freundschaftliche Verbindung. Sie reiten gemeinsam aus und Mario wird wieder ein wenig zu dem Kind, das er eigentlich noch ist. Nur Baden gehen will Mario trotz der großen Hitze nicht. Auch eindringliche Bitten Jorgelinas stimmen ihn nicht um.
Später beobachtet ihn die Kamera in seinem Verschlag in der Scheune, in der er sein Bett und seine persönlichen Dinge untergebracht hat. Nach einem harten Arbeitstag knöpft Mario sein Hemd auf und wickelt sich, von der Kamera abgewandt, langsam einen Verband von der Brust. Ab diesem Moment stehen für die Zuschauenden viele Fragen im Raum: Wer ist Mario wirklich? Macht sie/ er sich selbst zu etwas anderem, oder soll sie/ er anders sein?
Auch Jorgelina kommt Marios Geheimnis auf die Spur. Eines Tages entdeckt sie einen Blutfleck auf Marios Sattel, einen weiteren an der Hose. Auf Nachfragen bekommt sie keine Antwort. Aus Sorge berichtet Jorgelina ihrem Vater, der Arzt ist, von der "Verwundung". Er untersucht Mario und stellt fest, dass Mario biologisch gesehen ein Mädchen ist, deren Geschlecht bei der Geburt falsch bestimmt wurde. Bereits seit einem halben Jahr bekommt Mario seine Regel und traut sich mit niemandem darüber zu sprechen, aus Angst, sowohl vor einer unheilbaren Krankheit, als auch vor dem eigenen Vater. Denn instinktiv hatte Mario erkannt, dass die Entwicklungen des eigenen Körpers nicht mit dem Bild eines jungen Mannes übereinstimmen.
Was die Zuschauenden bereits befürchteten, wird nun wahr: Marios Vater sucht, nachdem er über dessen "Zustand" Bescheid weiß, die Schuld für das "Desaster" bei dem Kind selbst und verprügelt es. Daraufhin verschwindet Mario. Jorgelina macht sich große Vorwürfe, dass sie ihren Freund verraten hat. Als ihr Vater ihr erklären will, was Marios "Problem" ist, hält sie sich demonstrativ die Ohren zu. Stattdessen setzt sie alles daran, ihn zu finden und bringt Mario schließlich dazu, sich selbst zu akzeptieren, was zu den berührendsten Szenen des Films gehört.
Am Ende der Ferien ist Jorgelina nicht mehr so klein und naiv wie am Anfang der Ferien - so hat dieser Sommer auch sie verändert.
Die Figur der Jorgelina ist völlig frei von heteronormativen Urteilen über andere. In ihrer kindlichen Unschuld bricht sie immer wieder mit "gängigen" Verhaltensweisen - was darf ein Junge, was darf ein Mädchen. Auf die Aussage Marios "Ich bin nicht normal." antwortet Jorgelina völlig selbstverständlich "Ich bin auch nicht normal!"
So zeigt Solomonoff neben Marios Selbstfindung auch den Mut eines kleinen Mädchens, sich gegen dörfliche Gemeinschaftsstrukturen zu stellen und persönliche Freundschaften nach eigenen Maßstäben aufzubauen. So einfach und doch so kompliziert ist es. Ein großes Plus dieses von Pedro Almodóvar produzierten Independentfilms ist es, dass all diese Themen eher beiläufig behandelt werden. Er kommt mit wenigen Worten aus, eher die Mimik und Gestik der jungen, hervorragenden LaiendarstellerInnen geben dem Film seine entscheidende Tiefe.
AVIVA-Tipp: Ein leiser Film über das Erwachsenwerden, über erste eigene Geheimnisse und darüber, wie Kinder lernen, sich durchzusetzen. In der Weite der argentinischen Landschaft angesiedelt, erzählt "Mein Sommer mit Mario" nicht nur eine ungewöhnliche Coming of age-Geschichte, sondern zeigt, wie vorurteilsfrei Kinder Freundschaften schließen, wenn sie denn dürfen und wie fatal duale Geschlechtszuschreibungen sich auf Menschen auswirken.
Zur Regisseurin: Julia Solomonoff: wurde 1968 in Buenos Aires geboren. Sie ist Schauspielerin, Produzentin und Film- und Fernsehregisseurin. Darüber hinaus schreibt sie Drehbücher. 2004 war sie erste Regieassistentin bei dem Film "Die Reise des jungen Che" (USA 2004). Im Jahr 2005 führte sie dann bereits selbst Regie bei dem argentinischen Film "Ahora". "Mein Sommer mit Mario" kam 2009 in die argentinischen Kinos und wurde von der Kritik vielbeachtet. Solomonoff lebt in Buenos Aires und arbeitet momentan an Fernsehdokumentationen.
Mein Sommer mit Mario
Originaltitel: El último verano de la Boyita
Argentinien/ Spanien/ Frankreich 2009
Buch und Regie: Julia Solomonoff
DarstellerInnen: Guadalupe Alonso, Nicolás Treise
Verleih: GMfilms
Bildformat: PAL
Sprache: Kastilisch (Spanisch)
Untertitel: Deutsch
DVD-Start: 16. März 2012
FSK: Freigegeben ab 12 Jahren
Lauflänge: 88 Minuten
Bestellnummer (EAN): 426 0065 5239 13
15,99 Euro
www.gmfilms.de
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